Überstunden im Corona-Jahr: Jeder Dritte arbeitet umsonst
40 Stunden Arbeitszeit pro Woche – so steht es in vielen Anstellungsverträgen. Die Realität sieht hingegen häufig anders aus; knapp die Hälfte aller Beschäftigten leistet hierzulande regelmäßig Überstunden. Das ergibt der „Arbeitszeitmonitor 2021“, für den Vergütungsanalyst*innen von GEHALT.de insgesamt 346.405 Datensätze auswerteten.
Ungefähr drei Stunden an Extraarbeit fallen im Schnitt jede Woche für Betroffene an. Problematisch hierbei ist jedoch: Nur in einem Drittel der Fälle erhalten Arbeitnehmer*innen einen Überstundenausgleich. Lohnenswert ist das allein für Arbeitgeber*innen. Schätzungen des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) gehen davon aus, dass diese hierdurch jährlich Gehaltskosten in zweistelliger Milliardenhöhe einsparen.
Anteil der Beschäftigten, der Überstunden leistet
Allgemein | Anteil aller Beschäftigten |
Überstunden | 48% |
Keine Überstunden | 52% |
Weniger Überstunden während Corona?
Seit dem Krisenjahr 2009, als die wöchentliche Überstundenanzahl bei 6,5 Stunden lag, ist der Wert kontinuierlich gesunken – so auch in diesem Vergleichszeitraum von 3,0 (2018/19) auf nun 2,9 Stunden (2020/21). Diese Zahlen müssen allerdings im Kontext der Pandemie betrachtet werden, die vielerorts zu ansteigender Kurzarbeit führte. Unabhängig davon ist allgemein ein deutlicher Rückgang der Überstundenanzahl zu erkennen. Dies kann auch mit wechselnden Prioritäten von Arbeitnehmer*innen zusammenhängen.
„Die Anzahl der durchschnittlichen Überstunden in Deutschland hat sich während der letzten 10 Jahre mehr als halbiert. In Zeiten, in denen die Work-Life-Balance im Vordergrund steht und der Arbeitsmarkt vermehrt auf Arbeitnehmer*innen ausgerichtet ist, sinkt tendenziell die Bereitschaft, Überstunden zu leisten.“
Dr. Korbinian Nagel, Arbeitsmarktökonom bei GEHALT.de
Überstundenentwicklung im Jahresvergleich
Jahr | Überstunden pro Woche |
2009 | 6,5 |
2010 | 5,5 |
2011 | 4,8 |
2012 | 4,4 |
2013 | 4,1 |
2014 | 3,9 |
2015 | 3,4 |
2016 | 3,2 |
2017 | 3,1 |
2018/2019 | 3 |
2020/2021 | 2,9 |
Überstunden sind übrigens nicht nur für fest im Berufsleben verankerte Menschen ein Thema, auch Azubis sind betroffen. Die „Corona-Ausbildungsstudie“ des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) ergab demnach, dass ungefähr ein Drittel aller Lehrlinge „immer“ oder „häufig“ Überstunden ableiste, ein weiteres Drittel „manchmal“, lediglich ein Siebtel „nie“. Bei vier von fünf Betroffenen lag die wöchentliche Zusatzlast bei unter fünf Stunden. Etwa 23 Prozent aller Azubis hatten zudem mit dem gegenteiligen Problem zu kämpfen: Vor allem aufgrund der Coronakrise fiel die Ausbildung aus betrieblichen Gründen mitunter aus, hierdurch sammelten sich dann Minusstunden an, die mehr als 80 Prozent voll oder teilweise nacharbeiten mussten. Eine solche Vorgehensweise ist allerdings nicht mit dem Berufsbildungsgesetz (BBiG) konform.
Mehr Gehalt, mehr Überstunden
Eine weitere Erkenntnis unseres Arbeitszeitmonitors: Ein höheres Gehalt geht mit einer höheren zeitlichen Mehrbelastung einher. Während Fachkräfte mit einem sechsstelligen Bruttojahresgehalt mehr als 6 Überstunden pro Woche zu Buche stehen haben, sinkt diese Zahl auf verhältnismäßig geringe 1,7 Überstunden, wenn das Einkommen unter 20.000 Euro liegt. Durch diesen Zusammenhang lässt sich womöglich auch die Geschlechterdiskrepanz (Männer: 3,5 Überstunden, Frauen: 2,1 Überstunden) zumindest zum Teil erklären, denn noch immer verdienen männliche Arbeitnehmer bei gleicher Leistung und Qualifikation mehr als ihre weiblichen Kolleginnen.
Die Höhe des Gehalts hat indessen keinen Einfluss darauf, ob Überstunden ausgeglichen werden oder nicht, der Anteil bewegt sich unabhängig davon bei etwa einem Drittel. Die einzige Ausnahme stellen Führungskräfte dar – nicht nur verzeichnen sie deutlich höhere Überstundenzahlen (ca. 7,6 Überstunden pro Woche) als Fachkräfte, auch kann nur jede siebte Arbeitskraft mit leitender Verantwortung davon ausgehen, dass die Extra-Arbeit auch mit Zeit oder Geld ausgeglichen wird.
Überstundenanzahl nach Gehaltshöhe
Bruttojahresgehalt (Fachkräfte) | Überstunden pro Woche |
0 - 20.000 Euro | 1,7 |
20.001 - 40.000 Euro | 2 |
40.001 - 60.000 Euro | 2,7 |
60.001 - 80.000 Euro | 3,7 |
80.001 - 100.000 Euro | 4,5 |
ab 100.001 Euro | 6,1 |
Überstunden pro Woche | Überstundenanzahl | Anteil an Beschäftigten mit Überstundenausgleich |
Allgemein | 2,9 | 32% |
Fachkräfte | 2,5 | 34% |
Führungskräfte | 7,6 | 14% |
Frauen | 2,1 | 32% |
Männer | 3,5 | 33% |
Branche und Region: Wie wirken sich diese Faktoren auf die Überstundenzahl aus?
Bei einem Blick auf Branchen mit besonders großer Überstundenlast liegt die Unternehmensberatung ganz vorne (4,7 Überstunden), dicht gefolgt von Beschäftigten im Konsum- und Gebrauchsgütersektor (4,1 Überstunden) bzw. in der Hotellerie und Gastronomie (4,0 Überstunden). Vergleichsweise wenig Extraarbeit müssen hingegen Arbeitnehmer*innen aus Steuerberatung und Wirtschaftsprüfung, Rechtsberatung sowie in der öffentlichen Verwaltung leisten, sie kommen durchschnittlich mit weniger als zwei Überstunden pro Woche aus.
Branchen mit den meisten Überstunden
Branche | Überstunden pro Woche |
Unternehmensberatung | 4,7 |
Konsum- und Gebrauchsgüter | 4,1 |
Hotels und Gaststätten | 4 |
Branchen mit den wenigsten Überstunden
Branche | Überstunden pro Woche |
Rechtsberatung | 1,9 |
Öffentliche Verwaltung, Behörden | 1,8 |
Steuerberatung, Wirtschaftsprüfung | 1,6 |
Eine deutlich geringere Spannbreite lässt sich im Gegensatz hierzu im Regionalvergleich feststellen. Lediglich der Stadtstaat Bremen fällt hier mit 2,2 Überstunden pro Woche leicht ab, während jener Wert für alle anderen Bundesländer zwischen 2,6 und 3,0 Überstunden liegt; Spitzenreiter sind hierbei Hessen, Hamburg und Baden-Württemberg. Auch hier gibt es zumindest einen leichten Zusammenhang mit dem allgemeinen Lohnniveau:
In Ballungsgebieten mit einer hohen Anzahl an kapitalstarken Unternehmen herrscht eine höhere Überstundenanzahl vor als in ländlichen Gebieten.
Dr. Korbinian Nagel, Arbeitsmarktökonom bei GEHALT.de.
Überstunden nach Bundesland
Bundesland | Überstunden pro Woche |
Hessen | 3 |
Hamburg | 3 |
Baden-Württemberg | 3 |
Nordrhein-Westfalen | 2,9 |
Rheinland-Pfalz | 2,9 |
Sachsen-Anhalt | 2,8 |
Bayern | 2,8 |
Mecklenburg-Vorpommern | 2,8 |
Berlin | 2,8 |
Thüringen | 2,8 |
Saarland | 2,7 |
Niedersachen | 2,7 |
Schleswig- Holstein | 2,7 |
Brandenburg | 2,6 |
Sachsen | 2,6 |
Bremen | 2,2 |
6.500 Überstunden während der gesamten Laufbahn
Klingen drei oder vier Überstunden pro Woche noch nach einer halbwegs überschaubaren Anzahl, so summieren sich diese im Laufe eines Jahres zu einem beträchtlichen Wert an. Demnach haben Beschäftigte im vergangenen Jahr durchschnittlich ca. 131 Überstunden gemacht, hochgerechnet auf eine gesamte Berufslaufbahn bedeutet das: Ein*e Arbeitnehmer*in arbeitet im Mittel knapp 6.500 Stunden mehr als vereinbart. Das sind fast dreieinhalb Jahre an Arbeitszeit, die in zwei von drei Fällen nicht entsprechend abgegolten wird.
Dies birgt nicht nur monetäre, sondern auch gesundheitliche Nachteile. Eine gemeinschaftliche Analyse der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) warnt vor einem verstärkten Risiko für Schlaganfälle oder Herzleiden. Demzufolge sind zu lange Arbeitszeiten ursächlich für ein Drittel aller mit dem Beruf in Zusammenhang stehenden Erkrankungen. Für ältere Beschäftigte wiegt dieser Umstand doppelt schwer, denn sie leisten deutlich mehr Überstunden als jüngere Kolleg*innen. Sind es bei über 59-Jährigen 3,5 Überstunden pro Woche, so liegt dieser Wert bei unter 20-Jährigen bei verhältnismäßig geringen 1,6 Überstunden.
Deutlich schwerer sichtbar zu machen ist zudem die hierdurch entstehende psychische Belastung. Gerade durch infolge der Coronapandemie immens ansteigende Homeoffice-Phasen verschwimmt die Grenze zwischen Privatem und Beruflichem, eine nachlässigere Beachtung von Feierabend und Pausenzeiten ist bisweilen die Folge. Expert*innen fordern deshalb striktere Regelungen sowie eine lückenlose Erfassung und Vergütung von Arbeitsstunden.
Überstunden nach Alter
Überstunden nach Alter (Fachkräfte) | Überstunden pro Woche | Kumulierte Überstunden |
<20 | 1,6 | 984,9 |
20-29 | 2,2 | 1310,8 |
30-39 | 2,9 | 1434,6 |
40-49 | 3,2 | 1496,3 |
50-59 | 3,3 | 1273,3 |
>59 | 3,5 | 984,9 |
Aufsummierte Überstunden beim Renteneintritt |
6.500 |
Zur Methodik:
Die Vergütungsanalyst*innen von GEHALT.de haben basierend auf 346.405 Arbeitsverhältnissen die geleisteten Überstunden von Fach- und Führungskräften in Deutschland ausgewertet. Zusätzlich wurde ausgewertet, wie häufig diese durch Freizeit oder monetär ausgeglichen werden.
Für die Berechnung der kumulierten Überstunden wurde von durchschnittlich 254 Arbeitstagen im Jahr ausgegangen. Abzüglich der Urlaubstage (durchschnittlich 28,3 laut Auswertung von GEHALT.de) beläuft sich die Zahl der Arbeitstage auf 226 pro Jahr. Die durchschnittliche Überstundenanzahl pro 5-Tage-Arbeitswoche (2,9) wurde durch 5 geteilt und mit den Arbeitstagen pro Jahr multipliziert. Daraus ergibt sich ein Wert für die jährlichen Überstunden.
Dementsprechend erfolgte auch die Berechnung der kumulierten Überstunden am Karriereende. Hierzu wurde die variierende Überstundenanzahl nach Alter in die Rechnung mitaufgenommen.
Über die Kampagne – Gehalt.de als #Tabubrecher
GEHALT.de setzt sich dafür ein, mit dem Tabuthema Gehalt in Deutschland zu brechen, um somit für mehr Transparenz zu sorgen und eine faire, gleichberechtigte und marktgerechte Vergütung zu erreichen. Dazu veröffentlichen die Gehaltsexpert*innen regelmäßig datenbasierte Kampagnen, die tabuisierte Themen im Gehaltskontext beleuchten. Die vorliegende Auswertung ist Teil der Reihe „Gehaltsgefälle in Deutschland“.